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Andacht- und Predigt Archiv

Teilnehmen am Leiden

Veröffentlicht am Fr, 18.12.2015
von Franz Nagler
Pfarrer / Kath. Kirche, Kath. Kirchengemeinde St. Martinus Kornwestheim

Es wurde genau 50 Jahre nach Beendigung des zweiten Vatikanischen Konzils eröffnet, um zu unterstreichen, dass die Zielrichtung dieses Konzils, nämlich seine pastorale Ausrichtung, wieder neu gewürdigt werden soll. Barmherzigkeit ist kein Begriff unserer Zeit, obwohl er gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik wieder aktuell wird.

Mitleid und Barmherzigkeit gehen in ihrer Bezogenheit ineinander über. Das lateinische Wort misericordia bedeutet: ein Herz für die Armen haben. Auch das deutsche Wort Barmherzigkeit geht in dieselbe Richtung (Ein erbarmendes Herz haben) und meint damit eine Haltung, die über die eigene Ich-Zentriertheit hinausgeht und eben das Herz bei notleidenden Anderen hat, nicht nur in Form eines Gefühls, sondern in dem effektiven Sinn, das Leid auch zu bekämpfen.

Jean-Jacques Rousseau sieht erbarmendes Mitleid als Voraussetzung aller sozialen Tugenden, denn ihm liegt die Fähigkeit zugrunde, sich in einen anderen hineinversetzen zu können. Arthur Schopenhauer sieht erbarmendes Mitleid als eine unmittelbare Teilnahme am Leiden des Anderen. Immanuel Kant bezog eine Gegenposition. Im Sinne seines kategorischen Imperatives „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ lehnte er Gefühle für die Begründung einer Ethik ab.

Erst in neuerer Zeit wurde das Einfühlungsvermögen in die Situation der Anderen wieder Hauptpunkt des Denkens. Erbarmendes Mitleid wird als menschliches Urphänomen entdeckt, das am Leiden des Anderen teilnimmt. Da der Mensch ein dialogisches Wesen ist, das wesentlich in Beziehung lebt, wird erbarmendes Mitleid unter dem Gesichtspunkt der Solidarität mit leidenden Menschen gesehen. Erbarmendes Mitleid ist die Gegenkraft zur Grausamkeit, die den anderen entpersönlicht. Erbarmendes Mitleid ist in solchen Situationen die äußerste Möglichkeit, den Menschen in seiner nackten Existenz zu retten. Barmherzigkeit wird oft gegen den Begriff der Gerechtigkeit ausgespielt, dabei ist sie letztlich die Erfüllung der Gerechtigkeit. Barmherzigkeit setzt Recht und Gerechtigkeit voraus, überbietet sie, indem sie menschlich befreiende Nähe wagt, bzw. wenn Recht und Gerechtigkeit fehlen, den Menschen durch Barmherzigkeit vor der Zerstörung rettet.

Wir gehen auf Weihnachten zu. Erstaunlicherweise enthalten viele vorweihnachtliche Texte der Bibel dieses Wort Barmherzigkeit. Maria singt im Magnifikat: „Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht . . . Er nimmt sich seines Knechts Israel an und denkt an sein Erbarmen.“ (Lk 1) Zacharias, der Vater des Johannes, betet: „Er hat das Erbarmen mit den Vätern an uns vollendet . . . Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe.“ (Lk 1) Damit wird nichts anderes als eine tiefe Würdigung des Menschen durch Gott betont. So kann Weihnachten werden.

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