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Andacht- und Predigt Archiv

Die Erfindung des Spiegels

Veröffentlicht am Sa, 27.04.2013
von Katharina Leser
Pastoralassistentin / Kath. Kirche, Sonstige Dienste

Letzten Montag beim Zähneputzen stand ich wie gewohnt vor meinem Badezimmerspiegel. Aber anstatt wie sonst kritisch mein Spiegelbild zu begutachten, staunte ich über den Spiegel an sich: Mit ihm kann man nicht nur um Ecken gucken, sondern auch sein eigenes Gesicht sehen. Am Montag habe ich mich gefragt, wie das Leben wohl ohne Spiegel wäre. Sicherlich, es gibt inzwischen andere Hilfsmittel, mit denen ich mich selber sehen kann, wie Videokameras und Fotoapparate. Doch wie war das früher? Ich schätze, dass vor 200 Jahren kaum ein Haushalt einen Spiegel hatte, auch wenn die Technik viel älter sein mag. Selbstverständlich konnte man sich selbst auch damals in Wasseroberflächen oder polierten Metallen spiegeln, aber da sieht man doch nur ein verschwommenes Bild. Erst mit einem Spiegel sieht man sich selbst haarscharf.
Mich hat die Frage gefesselt, wie das wohl war: Ohne Spiegel zu leben und das eigene Aussehen nicht wirklich zu kennen. Vier große Spiegel hängen in meiner Wohnung – ich kann mir das gar nicht vorstellen, mein Gesicht nicht zu kennen. Blinde kennen ja auch ihr Aussehen nicht auf diese Art, aber Sehende würden ohne Spiegel alle Gesichter kennen, außer ihr eigenes. Unvorstellbar.
Wie wäre das, wenn man sich selbst nie in die Augen gucken könnte? Ich frage mich vor allem, wie das das Selbstbild prägen würde: Würde ich so oft „ich“ sagen, wenn ich mir nicht ständig im Spiegel begegnen würde? Würde ich mich weniger wichtig nehmen? Würde ich mich mehr darauf stützen, wie andere mich sehen? Offensichtlich gab es auch früher, als Spiegel sehr selten waren, schon Egoismus und Eitelkeit. Aber mein Experiment für die nächsten Tage ist klar: Nur kurz in den Spiegel schauen, um die Haare zu richten. Ansonsten aber darauf vertrauen, dass mein Gott mich schon anschaubar erschaffen hat. Und darauf, dass die Menschen, die mir liebevoll begegnen, die besten Spiegel sind: Da sie zeigen, was ich wirklich ausstrahle.
Katharina Leser
Pastoralassistentin in der katholischen Seelsorgeeinheit Ludwigsburg-West

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