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Andacht- und Predigt Archiv

Freiheit braucht Perspektive

Veröffentlicht am Fr, 08.01.2016

Sie schätzt den Wechsel der Jahreszeiten, sie freut sich über den Schnee im Winter, wenn es Schnee gibt, sie freut sich über die Blumen im Frühjahr und über die Hitze des Sommers. Aber etwas anderes, das Deutschland von ihrer Heimat unterscheidet, das hat sie noch viel mehr schätzen gelernt. Es hat etwas mit Freiheit zu tun, mit der Freiheit angstfrei als junge Frau tags und nachts unterwegs sein zu können.
Sie erzählte mir: „Meine Eltern haben zu Hause ein Telefon. Nachbarn und andere Menschen aus dem Stadtviertel können gegen eine kleine Gebühr telefonieren. Wenn der Kunde bezahlt hat und die Nummer auf einem Zettel aufgeschrieben hat, wird durch ein vergittertes Fenster der Hörer hinausgereicht. Dann kann der Kund telefonieren.“ Alles andere wäre zu gefährlich. Es wäre zu gefährlich einen Telefonladen zu betreiben, bei dem die Kunden in den Laden kommen. Jeder Kundenkontakt ohne die Sicherheit eines vergitterten Fensters würde ein viel zu großes Risiko darstellen. Man könnte überfallen und ausgeraubt werden.
„In Deutschland dagegen“, so sagte diese junge Frau, „traue ich mich selbst morgens um sechs Uhr alleine zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Arbeit zu gehen. Da fühle ich mich sicher“.
Das liegt natürlich an der hohen Kriminalität in manchen Entwicklungs- und Schwellenländern. Der Unterschied zwischen den Armen, die nichts zu verlieren haben, und den Reichen, die alles haben, aber auch viel zu verlieren haben, ist viel größer als bei uns. Das hat zur Folge, dass zum Beispiel Schulkinder von bewaffneten Chauffeuren zur Schule gebracht werden. In Deutschland dagegen schützt der Sozialstaat ein Stück weit vor Kriminalität. Wer einigermaßen würdevoll leben kann, weil er staatliche Unterstützung bekommt, der wird sich leichter tun ein Leben zu führen, das gesetzliche Maßstäbe einhält. Das entspricht übrigens einem christlichen Menschenbild, dass jedes menschliche Leben dieselbe Würde besitzt und auch mit den Bedingungen ausgestattet werden soll, dass diese Würde gelebt werden kann.
Armut ist ein Grund für Kriminalität. Ein anderer Grund scheint neuerdings das verquere Menschen- und Frauenbild zu sein, das in manchen Kulturen vorherrscht. Da müssen wir unsere Freiheit mit Klauen und Zähnen verteidigen. Aber auch da gilt: Wer etwas zu verlieren hat, der wird sich eher an die Gesetze halten. Wer zum Beispiel Arbeit gefunden hat, wird sich leichter darauf einlassen, dass in Deutschland andere Vorstellungen von Freiheit gelebt werden als in seiner Heimat. Wenn irgend möglich sind die Täter von Köln, Hamburg und anderswo, die in der Silvesternacht Frauen belästigt, ausgeraubt und sogar vergewaltigt haben sollen, ausfindig zu machen und hart zu bestrafen. Wenn irgend möglich ist es aber ebenso notwendig diesen Menschen eine Perspektive für ihr Leben zu bieten, noch bevor sie kriminell geworden sind.  

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