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Bei Trost sein - Predigt des Streaming-Gottesdienstes vom 29.03.20

Veröffentlicht am So, 29.03.2020
von Stephan Seiler-Thies
Hochschulpfarrer, ESG-KHG Evangelische Studierendengemeinde – Katholische Hochschulgemeinde -

„Bei Trost sein“ Jes 66,10-14a, Streaming-Gottesdienst; 29.03.20

 

„Ja, bist du noch ganz bei Trost?!“, wütend begrüßt Anna ihre Mitbewohnerin an der Tür: „Wie kannst du bloß mit 4 unserer Kommilitoninnen spazieren gehen?! Schon mal was von Kontaktverbot gehört?“ Kleinlaut antwortet Laura: „Ich habe halt gedacht, wo gerade kaum jemand im Studidorf ist - da wäre ein Spaziergang mit ein paar doch ganz schön.“

Anna ist sauer über Lauras Leichtsinnigkeit in Corona-Zeiten. Und da ist es ihr herausgerutscht: „Bist du noch bei Trost?!“ Den Trost brauchen nun wohl beide Studentinnen. 

Der Trost hat nicht nur mit Traurigkeit zu tun. Ab dem 18. Jahrhundert bedeutet das „Trost“ der Redewendung auch geistige Festigkeit, also ob jemand noch bei Verstand ist.

Beides, Verstand und Trost können wir alle momentan gut gebrauchen. Mit beidem ist es nicht so einfach in diesen schwierigen Zeiten. Es gibt so vieles, das wir nicht verstehen. Es gibt so wenig, das trösten kann. Das Corona-Virus hat die Welt und unseren Alltag auf den Kopf gestellt. Wie können wir wieder zurück auf die Füße finden?

- Wir spüren die Angst vor der Ansteckung, die Sorge um unsere Angehörigen, aber auch wie Arme und Flüchtlinge betroffen sind. Was kann uns Kraft geben und trösten?

- Wissenschaftler forschen mit ihrem ganzen Wissen und Verstand: Wie wirkt das Virus? Was können wir dagegen tun? Vieles ist weiterhin unbekannt.

- Für viele Menschen heißt es gerade Homeoffice oder Kurzarbeit. Die Wirtschaft gerät in Schieflage, millionenschwere Hilfspakete werden geschnürt. Viele fragen sich: Wie wird die Zukunft aussehen?

- Und jetzt in der Gegenwart: Kontaktverbote oder Ausgangssperren. Unser Verstand versteht es. Aber unserem Herzen fällt es schwer. Wir sehnen uns nach Gemeinschaft.

Trost und Verstand, Kraft und Hoffnung brauchen wir immer wieder – gerade in schwierigen Zeiten des Lebens, wenn Schlimmes passiert, wenn ein Traum platzt, wenn wir nicht weiterwissen oder uns alleingelassen fühlen.

Was es gerade aber so besonders macht, ist, dass es uns alle gleichzeitig betrifft, in unseren Familien und Gemeinden, in unseren Städten, unserem Land und in aller Welt. Trost und Verstand für alle gleichzeitig, das ist neu für uns.

Doch es gab Ähnliches früher schon, nicht welt- aber länderweit. Davon lesen wir auch in der Bibel. Es kann helfen zu sehen, wie damals mit Krisen umgegangen wurde.

Vor gut 2½ Tausend Jahren brauchte ein ganzes Volk Trost. Israel und Juda hatten Kriege verloren, Jerusalem war dem Erdboden gleichgemacht, ein Großteil des Volkes im Exil: trostlos, ohne Hoffnung! 2 Generationen später dürfen die ersten in ihre Heimat zurückkehren. Jerusalem wird wieder aufgebaut. Doch die Angst bleibt: Wie wird die Zukunft aussehen? Wie sollen so viele Menschen getröstet werden, wenn da keiner ist, der noch Trost verspürt?

Da tritt der Prophet Jesaja auf und versucht zu trösten, im Namen eines ganz anderen. (Jes 66,10-14a)

Freut euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie liebhabt! Freut euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.

So spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.

Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet! Ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. Ihr werdet's sehen und euer Herz wird sich freuen. (…)

Was für seltsam-schöne Worte! Sie klingen nach Wärme und Geborgenheit, und nach viel Liebe. Da ist eine Stadt, die wieder zum Zuhause wird, zum Ort des Friedens. Von Stillen ist die Rede. Freude wird ausgerufen. Und Gott spricht: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“

Erinnern Sie die Worte auch an Ihre Kindheit? Wie oft sind wir als Kinder zu unserer Mutter gekommen mit blutendem Knie oder traurigem Herzen! Und sie hat uns in den Arm genommen, die Tränen abgewischt und uns getröstet.

Ich weiß, nicht alle dürfen solch eine Mutterliebe erfahren. „Nie war ich gut genug für meine Mutter!“, so erzählte es mir einmal eine Frau. In ihren Worten sprach eine tiefe Sehnsucht, geliebt und getröstet zu werden. Mütter können verschieden sein, für sich und zu uns. Die Bibelworte wollen uns sagen: Gott stillt unsere Sehnsucht nach Trost – wie eine Mutter im besten Sinne. Bei Gott seid ihr gut genug, mit allem; auch mit dem, das euch weh tut, trostlos erscheint oder gerade in Frage gestellt ist.

Mir tut es gut, auch und gerade in diesen so belastenden Corona-Wochen, solche Worte zu hören:

Gott will uns trösten, wie uns eine Mutter tröstet.

Gott ist hier nicht als Herrscher, Allmächtiger oder Übervater vorgestellt, sondern tröstlich, zärtlich, mütterlich.

Wie tröstet eine Mutter? Tröstet sie anders als ein Vater? Nicht unbedingt. Wenn ein Unglück geschehen ist oder der mühsam aufgebaute Turm von größeren Geschwistern umgeworfen wird, wenn Tränen fließen und der Kummer groß ist, dann kommt der Papa, nimmt das Kind in den Arm und tröstet es, ähnlich wie eine Mama tröstet.

Und doch gibt es einen Unterschied. Eines haben die Mütter den Vätern immer voraus: Sie haben das Kind während der Schwangerschaft unter ihrem Herzen getragen.

Und beim Stillen setzt sich diese Bindung fort.

Daraus wächst eine einzigartige Beziehung. Sie kann sich im Laufe des Lebens ändern. Aber wenn einen die Mutter tröstet, kann es sein wie eine kleine Heimkehr in die ursprüngliche Einheit. Ein Geborgensein im Ursprung.

So ursprünglich drückt es auch der Prophet Jesaja aus:

Nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; ihr dürft reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.

So nah wie zu einer stillenden Mutter dürfen wir uns unsere Beziehung zu Gott vorstellen. Was für ein unvorstellbarer Gedanke; unvorstellbar schön! Jetzt erst recht, wo wir Nähe auf ein geringes Maß einschränken sollen: Gott ist uns nah. Ich hoffe, wir können es auch jetzt erfahren, auch die Kinder, die bei schönem Wetter ihre Freunde nicht treffen können; auch der Single und die Witwe, die allein zuhause bleiben müssen; auch die Schwerkranken auf der Intensivstation, die um ihr Leben kämpfen. Manchmal ist es schwer vorstellbar, aber Gott ist auch jetzt da und tröstet. 

Das hebräische Wort für „trösten“, die Wortwurzel nicham bedeutet „zu Atem kommen“.

Trösten heißt in diesem Sinne dreierlei:

- Ich bin dem anderen so nahe, dass er meinen Atem spürt;

- Ich ermögliche ihm oder ihr befreiende Stoßseufzer;

- Wir können miteinander neu auf- und durchatmen.

Diese drei Atembewegungen machen das Trösten aus, vor 2 ½ Tausend Jahren, und auch heute.

Trösten heißt nicht, dass alles auf einmal wieder gut ist. Ich kann mit Trost nicht einfach das Corona-Virus aus der Welt schaffen. Die Angst, der Schmerz, die Unsicherheit bleiben. Und doch kann Trösten etwas verändern. Not wird nicht kleingeredet, sondern ausgehalten und geteilt. Dazu braucht es keine großen Worte, sondern dass jemand an meiner Seite ist, bis es wieder geht, bis wir aufatmen können.

Dem anderen so nahe zu sein, dass er meinen Atem spürt, ist in Corona-Zeiten schwierig. Und das macht nicht nur den Studentinnen Anna und Laura, sondern uns allen zu schaffen.

Wenig Kontakte, das ist schwer. Aber ich erlebe auch noch Anderes: Nicht nur Krankheit, sondern auch Kreativität. Neben den Schreckensnachrichten auch gute Geschichten. Die sollten wir nicht übersehen. So will ich ein paar erzählen, die mich in dieser Zeit trösten und ermutigen:

* Ich nehme mir gerade wieder mehr Zeit zu schreiben, an Freunde und Verwandte. Was kommen da für wunderbare, lange Antworten zurück! Kontakte leben ganz neu auf. Ich höre von Vielen, die Ähnliches erleben. Menschen telefonieren wieder mehr, oder Enkel skypen mit ihren Großeltern. Unsere soziale Gemeinschaft ist nicht zerbrochen, sie lebt gerade anders und neu auf. Was für ein Trost!

* Viele Menschen kaufen ein, für diejenigen, die das Haus nicht verlassen dürfen. Ganze Hilfsnetzwerke entstehen, übers Telefon oder Internet. Ja, es gibt Hamsterkäufe, aber auch einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt, wie ich es nicht erwartet hätte. Welch schöne Überraschung!

* Unsere Kirchen und Gemeindehäuser sind geschlossen. Das ist traurig. So feiern wir nun Online-Gottesdienste. Abends läuten die Glocken, Gläubige zünden Kerzen in den Fenstern an und beten füreinander. Natürlich wollen wir auch wieder zusammenkommen, uns besuchen, richtig miteinander feiern. Bis es wieder möglich ist, sind wir dennoch verbunden, in Gedanken und Gebeten, übers Internet. Gottes Geist hält uns in Kontakt und lässt uns aufatmen.

* Es ist gerade eine sehr angespannte Zeit, besonders für alle, die ihren Job unter schwierigsten Bedingungen machen: Ärzte, Pflegerinnen und Seelsorger, Mitarbeitende in Supermärkten, Bauern und Bäcker, Journalistinnen und Busfahrer, Polizistinnen und Politiker, und viele mehr.

Ich freue mich, dass sie „Helden des Alltags“ genannt werden, dass ihnen gedankt wird mit Musik auf Balkonen oder anderen Dankeszeichen. Es entsteht gerade eine neue Wertschätzung. Wie wunderbar! Ich hoffe, es bleibt auch in Zukunft so.

* Corona kann Fieber verursachen. Eine andere Überhitzung kühlt sich gerade ab. Industriebetriebe bleiben geschlossen, der Reise- und Pendlerverkehr geht zurück. Da stehen Jobs und Existenzen auf dem Spiel. Andererseits zeigen Satellitenbilder, dass die Luftverschmutzung zurückgegangen ist. Das Virus könnte dazu beitragen, dass sich die Erderwärmung verlangsamt. Es ist mir in allem Schrecken ein kleiner Trost.

* Und dann ist da noch die Zeit. Vieles ist neu zu organisieren und kostet Zeit. Anderes ist ausgebremst. Menschen sind im Stress, andere haben mehr Zeit. Es ist nicht leicht, damit umzugehen. Aber ich empfinde es auch als Chance, Liegengebliebenes zu erledigen, Hobbies wiederaufzunehmen, und in Ruhe nachzudenken, was mir wirklich wichtig ist in meinem Leben. Auch das kann heilsam sein.

Die Corona-Krise ist schlimm, keine Frage. Aber es gibt auch manch Glück im Unglück und viel Solidarität. Wir Christen nennen es Nächstenliebe.

Solidarität und Nächstenliebe, beides ist sichtbar in helfenden Händen und offenen Herzen. Im Unterschied zur Solidarität speist sich Nächstenliebe aber noch aus einer anderen Quelle. Was wir tun, verstehen wir auch als Gottes Geschenk. Er schenkt die Kraft durchzuhalten; die Hoffnung, nicht zu verzweifeln; den Verstand, das Richtige zu tun – und Trost!

„Ja, bist du noch ganz bei Trost?!“ - „Ich hoffe doch sehr“, möchte ich antworten. Ich hoffe es betrifft unseren Verstand und unser verantwortliches Handeln, unsere Gefühle und unsere Hoffnung. Bei Trost sein mit allem, was dazugehört, und auch mit Gottes Hilfe.

Amen

 

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